16.10.2002, 21:59 Uhr
Tubbs Posts: 22 Rang: Stallbursche
| Diese Kurzgeschichte ist ein Vorabdruck aus Jess Jochimsens neuem Buch Flaschendrehen (dtv).
Viel Vergnügen beim Lesen:-)
Küssen ist eine Kunst. Was macht ein 14-Jähriger, der beim Flaschendrehen seinen Mann stehen soll? Wo lernt er die Kuss-Techniken? Jess Jochimsen blickt zurück in Peinlichkeit: Er übte am Bravo-Starschnitt von Nena.
Die Pubertät - das war nicht nur die Zeit der Schmetterlinge im Bauch, des Zettel-Schreibens, des Warten-dass-sie-anruft, nein, es war vor allem die Zeit der Parties oder der "Feten", wie sie damals noch hießen. Man traf sich freitags um 16 Uhr in einem den Eltern unzugänglichen, vom Sonnenlicht hermetisch abgeriegelten Hobbyraum. Ganz wichtig: Es waren immer exakt gleich viel Jungen und Mädchen anwesend. Das war natürlich eine Chance, aber auch eine Falle. Um 22 Uhr war finito, es blieben gerade mal lächerliche sechs Stunden, und weit mehr als die Hälfte dieser Zeit gingen für Blöd-Rumgestehe, Cola-Getrinke und Salzstangen-Geknabbere drauf, die Jungs hier, die Mädchen da. Was sich auf diesen Feten vor allen anderen Dingen ausbildete, war eine seltsame Logik, eine pubertäre Denkweise, die ich bis heute nicht losgeworden bin. Ich erklär's mal so:
Ich war in Mädchen A verliebt, aber Mädchen A war oft nicht auf den Feten. Mädchen B dagegen war immer auf den Feten. Auf der einen Seite sah Mädchen A natürlich unvergleichlich besser aus als Mädchen B, auf der anderen Seite war es auf den Feten dunkel. Selbstredend war Mädchen B strohdoof, dafür trug es einen BH, den Mädchen A nicht trug, außerdem war die ja auch gar nicht da. Ich hingegen wusste: Wer einen BH trägt, hat auch einen Busen! Aha. Ich liebte Mädchen A, knutschte aber mit Mädchen B. Dachte währenddessen allerdings an Mädchen A, was ging, weil es ja dunkel war. Dazu kam, dass ich noch gar nicht wusste, wie Knutschen eigentlich ging. Es war also nur mehr als gerecht, das schon mal zu üben mit Mädchen B. Für Mädchen A, in das ich ja eigentlich verliebt war. Das wusste Mädchen B natürlich nicht. Die Mädchen C bis G aber wussten das alle, und die erzählten das Mädchen B noch auf der Fete. Und Mädchen B erzählte es am nächsten Schultag natürlich brühwarm Mädchen A, das wiederum meine Argumentation gar nicht so logisch fand wie ich. Es war eine schwierige Zeit.
Man hatte so viel zu lernen. Küssen zum Beispiel. Nur aufzupassen bei Kussszenen im Fernsehen reichte nicht, man brauchte Praxis. Kuss war ja nicht gleich Kuss, der Weg führte vom Bussi auf die Wange, über den Kuss auf die Lippen, das Küssen mit offenem Mund zum Zungenkuss, dem Mysterium. Küssen war eine Wissenschaft, an die man spielerisch herangeführt wurde. O gnadenlose Laune pubertärer Natur, perfider Plan von list'ger Mädchenhand ersonnen: Flaschendrehen. Von wegen auf den Geburtstagen würde nicht mehr gespielt, Flaschendrehen war die Fortsetzung der Reise nach Jerusalem mit anderen Mitteln. Einen traf's und der war dran. Das ging mit den harmloseren Dingen los, etwas singen zum Beispiel. Doch so harmlos war das nicht, weil alle anderen zuhörten. Und zwischen coolem Imponieren und der Blamage bis auf die Knochen war es ein schmaler Grad. Der Flaschenhals deutete auf sein Opfer, das stand auf und wisperte: "O-ho-ho, you're in the army, now!
Aber dann ging's ans Küssen. Das war die Idee der Mädchen, die auch gleich die Regeln festlegten. Die Mädchen waren halt weiter. Eine nach der anderen ließ sich küssen. Wer dies aber tun sollte, von den Jungs, wurde per Flaschendrehen ermittelt. Gläserner Zufallsgenerator, Fatum mali, das Schicksal - powered by Coke. Herr, lass Abend werden, dachte ich, lass die Eltern kommen, mich abzuholen.
Küssen, mein Gott, richtig küssen, wie sollte das denn gehen? Küssen, das hatte bestimmt auch mit geküsst werden zu tun. Mit dem feuchten Schmatzer, den mir die Großmutter mütterlicherseits, wenn sie zu Besuch kam, auf die Stirn klatschte, dass mir die kukidentgeschwängerte Soße nur so übers Gesicht lief. Und es gab ein weiteres Problem: Nicht nur die Kuss-Technik mit ihren Schwierigkeitsgraden Wange, Lippen, offener Mund und Zunge, nein - man musste beim Küssen eine Erektion bekommen. Hieß es, im Kreise der Jungs auf dem Schulhof. Die Jungs redeten da sehr oft drüber, auch die älteren, das konnte unmöglich ein Gerücht sein. Kuss gleich Ständer, oder "Latte", wie wir damals sagten. Wer beim Küssen die erforderliche Erektion nicht bekäme, so viel stand fest, war schwul, oder, schlimmer noch, impotent.
Noch viel wichtiger sei natürlich die Penislänge, sagten die Jungs, weil eine Erektion sei ja echt easy, eine läppische Sache. Und es gab tatsächlich einige, die das auf dem Schulklo bewiesen. Auf Kommando bekamen die da eine Bombenerektion hin. Die waren fein raus, dachte ich, die konnten das beim Küssen bestimmt auch. Ich hingegen sicherlich nicht. Noch nie hatte ich auch nur den Ansatz einer Erektion, wenn mich die Oma küsste, und sehr viel mehr Kusserfahrung hatte ich ja nicht. Überhaupt gelang mir eine Erektion nie, wenn ich sie wollte. Im Gegenteil, sie kam, wenn man sie am allerwenigsten brauchen konnte, im Schwimmbad etwa. Und die Penislänge war vernichtend.
Aber schwul war ich nicht, da war ich mir ganz sicher. Ich schrieb doch mit Geha-Füller, das konnte also gar nicht sein. Blieb das Problem mit der Impotenz. Das durfte nicht sein. Alles, nur das nicht. Ich begann mit eisernen Beim-Küssen-eine-Erektion-kriegen-Übungen.
Ich investierte sehr viel Geld und noch mehr Zeit, bis ich endlich den Bravo-Starschnitt von Nena komplett hatte. Nena war unbestritten die sexyste Frau des Universums. Wenn es mit Nena nicht klappte, konnte ich einpacken. Woche für Woche lief ich zum Kiosk und erwarb die Bravo. Duran Duran, Spandau Ballett, Dr. Sommer - sie waren mir egal, entscheidend war der Starschnitt. Den trennte ich heraus: Nena-Füße, Nena-Beine, Nena-Wange, Nena-Augen, Nena-Arme, Nena-Schweißbänder. Irgendwann hatte ich sie zusammen. Ich schnitt die lebensgroße Ikone der Neuen Deutschen Welle aus, weil sie ja auch echt wirken sollte.
Weil man Papier aber schlecht im Arm halten konnte, klebte ich die ausgeschnittenen Nena-Teile mit Tapetenkleister auf alte Sperrholzplatten. Jetzt war dieses Sperrholz aber auf seine Aufgabe als Nena-Träger und Erektion-beim-Küssen-Kriegen-Übungs-Puppe alles andere als vorbereitet. Es war viereckig, sperrig und vor allem viel zu klein. Ich benötigte allein vier Platten für Nenas Oberkörper und weitere drei für die Beine. Wieso eigentlich drei? Ich weiß es nicht, es war aber so. Mühsam schnitt ich das Holz mit der Laubsäge in Nena-gerechte Maße und hatte dann sieben Teile, welche noch miteinander verbunden werden mussten. Also bog ich ein paar rostige Winkel gerade und legte Schrauben und Muttern bereit. Was dann folgte, war weniger die Kreuzigung, als vielmehr die Verschraubung eines Popstars. Nena hatte Schraubenmuttern in Armen und Beinen, im Hals und sogar im Gesicht. Allein, es war vollbracht. In unserem Keller lag eine spitzenmäßige Sperrholz-Nena und wartete auf mich.
Ich wuchtete sie gegen die Wand, legte die Kassette mit 99 Luftballons in den Recorder und begann mit dem Training. Sie zu küssen war gar nicht so leicht, Nena war einen guten Kopf größer als ich. Ich stieg auf einen Schemel und dann küsste ich Nena, wie sie noch nie in ihrem Leben geküsst worden war. Ich hauchte ihr auf die Wange und benetzte ihre Stirn, ich speichelte ihren Hals ein und Jahre bevor Piercing überhaupt erfunden wurde, leckte ich die Schraube in ihrer Lippe ab. Ich küsste sie bis meine Lippen wund waren, ich hatte Sperrholzsplitter im ganzen Gesicht, aber keine Erektion. Jetzt war es amtlich: Ich war impotent. Meine Leben hatte keinen Sinn mehr. Selbstmord, dachte ich, verabschiede dich von dieser Welt, aber tu es mit Würde. Ich zerlegte Nena wieder in ihre sieben Einzelteile und traktierte diese, damit mir niemand auf die Spur käme, noch mal mit der Laubsäge. Ich gestehe, ja, ich habe Nena zersägt.
Keine Erektion, versagt, vorbei. 14 Jahre alt war ich nur geworden, gestorben 1984, in Orwells Jahr, Nineteeneightyfour. KajaGooGoo war Nummer eins in der Hitparade, mit Limahl! 1984. Friedensbewegung, Ostermärsche, die Grünen waren noch Pazifisten und gerade in den Bundestag eingezogen. Dort hatten sie als eine ihrer ersten Oppositionstaten erwirkt, dass die übermäßigen Impfungen an den Schule zurückgeschraubt wurden. Weniger Schluckimpfungen in der Schule…
Schluckimpfung! Kinderlähmung! Ich rannte weg von Nena, ich rannte vom Keller hoch ins Wohnzimmer. Kinderlähmung! Irgendwo war doch dieses verdammte Merkblatt, "Kinderlähmung", da war es. "Symptome: Müdigkeit" - ja, "Gedächtnisschwund" - aber hallo, "Schwierigkeiten beim Laufen" - sowieso, mit meinen Füßen. Und dann las ich: "Potenzstörungen." Schwarz auf weiß: "Potenzstörungen." Wir hatten keine Schluckimpfung gehabt, 1984, in der Schule. Ich hatte Kinderlähmung! Deswegen war ich impotent!! Und die Grünen waren schuld daran!!!
All das schoss mir durch den Kopf, während die Flasche auf dem Hobbyraum-Bastel-Tisch rotierte. Flaschendrehen mit Küssen als Preis und Schicksal. Wange, Lippen, offener Mund, Zunge. Nur noch wenige Minuten, und alle würden es wissen. Ich wollte aufstehen wie ein Mann und brüllen: Lasst ab von mir, quält mich nicht, ich habe Kinderlähmung! Aber ich konnte mich nicht mehr bewegen, die Krankheit war bereits in fortgeschrittenem Stadium.
Ich versuchte logisch zu denken: Katja Berger war nicht auf der Party, das Mädchen A wie immer abwesend. Mädchen B war schon dran gewesen, Bussi auf die Wange, Erwin Moser hatte seine Aufgabe mit Bravour gemeistert. Auch Mädchen C und D waren durch, es blieben gerade mal vier Jungen übrig. Die Chancen standen 1:4, dem Zungenkuss zu entgehen. Die zu küssende war Mädchen Z, Astrid von Ginten, die Nachbarstochter, ich nannte sie immer "Arschtritt von Hinten".
Die Cola-Flasche kreiselte, die Flasche kreiselte schnell, langsamer, ruckelte, pendelte sich aus, stand. Gerettet - nein, sie wackelte noch - und der Schlund der Cola deutete auf mich. Das Ende. Der Zungenkuss. "Mit umarmen!", feixte irgendwer.
Von umarmen war keine Rede gewesen. Wie sollte denn das auch gehen? Anatomisch, meine ich. Astrid war zwar kleiner als Nena, aber nicht aus Sperrholz, im Gegenteil, dreidimensional, mit Brille. Mehr breit als hoch. Nein, das waren keine Brüste, wie Katja Berger sie hatte, das waren Waffen. Und Astrid machte Gebrauch von ihnen. Sie rammte sie mir in die Rippen, dass mir die Luft wegblieb, küssen oder geküsst werden, das war hier die Frage. Sie war die Prinzessin und ich nur ein kleiner impotenter Frosch. Sie hielt mich fest umschlungen und presste ihren offenen Mund gegen den meinen. Von Atemtechnik stand nichts in der Bravo, dachte ich, und japste nach Sauerstoff. Astrids Zunge schob sich Zentimeter um Zentimeter vorwärts und suchte nach der meinen. Ich war der Ohnmacht nahe und versuchte gleichzeitig, meine Zunge im eigenen Rachen zu verstecken. Doch Astrid kannte keine Gnade. Ich schmeckte Cola, Salzstangen und Odol. Wie zwei Ringkämpfer umwulsteten sich unsere Zungen, kraftvoll, unermüdlich. Ich dachte an Nena, an Katja Berger, an meine Mutter, die Sekunden verstrichen, die Minuten, die Stunden, die Monate, die Jahre - und endlich ließ Astrid von mir ab.
In der Runde wurde anerkennend genickt, irgendwer applaudierte sogar. Das Flaschendrehen war vorüber. "Und - wie war's?", wollte Erwin Moser wissen. Dann brach es auf mich herein. "Starke Leistung, Mann." "Kannst du mir das beibringen?" Ich war der unumstrittene Meister in Sachen Zungenkuss. Zum Glück war Katja Berger nicht hier. Hatte mich nicht mit Astrid von Ginten gesehen. Aber ich wusste jetzt, wie der Hase lief. Katja Berger würde Augen machen.
Und während mich die anderen noch bedrängten und ich den einen oder anderen wertvollen Tipp in Sachen Kusstechnik abgab, schob ich meine Hand unter den Pullover und tastete vorsichtig nach meiner Hose. Soviel stand fest: Kinderlähmung hatte ich nicht.
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